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Winterabende in Altenstädt vor über 100 Jahren
Aufzeichnungen des aus Altenstädt stammenden Lehrers August Henkelmann, geboren 26.8.1878, mitgeteilt von Georg Feige
“Um des Lichts gesellige Flamme sammeln sich die Hausbewohner”
Der Winter nahte mit Macht und die Menschen rückten in den Wohnungen näher zusammen. Der gute alte Ofen, der den Brand von 1884 (1885?) überlebt hatte, tat von früh bis spät seine Pflicht und in der Stube wurde es gemütlich, ganz besonders am Abend. Die Nähmaschine stand so, dass wir alle fünf das Licht empfingen, das von der alten Petroleumlampe ausgestrahlt wurde. Nachdem ich meinen Korb Kohlrüben geschnitten hatte, saß ich mit meiner großen Schiefertafel an der Rückseite der Maschine und widmete mich mehr den Erzählungen der Eltern, als den Schulaufgaben. Die Hungerjahre der Jugendzeit waren ein beliebtes Thema. Besonders die Jahre 1847 bis 1850 müssen schrecklich gewesen sein, denn auch in Imshausen 1) bezog man damals Getreide aus dem Magdeburgischen, für das dir Trotten 2) das Geld vorgeschossen hatten. Mutter erzählte, wie sie als Kinder sehnsüchtig die Schüssel inspizierten, ob nicht vielleicht doch noch eine Kartoffel darin zu finden wäre, aber es war alles vergeblich. Drei katastrophale Missernten hintereinander hatten diese Not entstehen lassen. Vater sagte dann regelmäßig zu uns: “Kinder, ihr habt den Himmel auf Erden und auf dieser Welt, denn ihr könnt euch immer satt essen!” Ich war im stillen nicht so recht überzeugt von diesem Himmel, denn ich hätte oft zur Kartoffelschüssel noch gern eine freundliche Garnitur aus der Wurstkammer gesehen. Vater begann viele Erzählungen: “ Als ich noch auf dem Weidelshofe Laufjunge war...” Und Mutter begann: “Als ich noch in der Oberförsterei diente..” Wir erfuhren dann, wie der Oberförster gewettert hatte, wenn sie abends die Jagdhunde nicht eingesperrt hatte, diese dann auf eigenen Faust auf Jagd gingen, und erst nach Mitternacht mit lautem Gebell zurückkamen. Sie wurde aber auch gelobt, dass sie um vier Uhr morgens hörte, dass die Kuh kalben wollte, obwohl sie bis nachts bis auf ein Uhr gearbeitet hatte. Aus der Oberförsterei stammte auch ihre bedeutende Kochkunst, die bei einer kleinen Bauersfrau nicht selbstverständlich war. Sie brachte uns, wenn auch einfache, so doch mannigfaltige Gerichte. Die Eltern hatten beide zu verschiedenen Zeiten unsere Tante im fernen Bayern besucht. Diese Reisen gaben für ihre fernere Lebenszeit Stoff zu vielen abendlichen Berichten. Vater erzählte von den Ängsten, die er ausstand, als ihn ein Mitreisender ins Hotel “zum Roten Hahn” in Nürnberg mitgenommen hatte. Als er in einer feinen Hotelkutsche in die Nobelherberge fuhr, da dachte er: “Wie soll ich das bezahlen?” Er hatte vor Unruhe kaum ein Auge zugemacht, als bereits der Ruf des Hoteldieners ertönte: “Aufstehen, weil’s vier Uhr ist.” Und siehe da: die ganze Herrlichkeit kostete nur zwei Reichsmark, so dass von der Gesamtbarschaft von siebzehn Mark doch noch ein Erkleckliches übrig blieb Die Tante war Lehrerin der Taubstummenanstalt in Altdorf bei Nürnberg und Mutter erzählte, wie sie den Zöglingen die Hosen geflickt habe und führte vor, wie nett sich diese jedes Mal bedankt hätten, was natürlich auch ein mahnendes Beispiel für uns sein sollte. Glücklicher konnte keine Familie sein als wir fünf an diesen Winterabenden. Unterhaltsamer wurden diese Abendstunden noch, wenn Hildebrands Willem, Reinhards Freund, uns besuchte. Er war ein verheißungsvolles Zauberwort, wenn die Haustür aufging und Reinhard sagte: “Das ist der Willem.” Foto: Altenstädter Burschen in der Spinnstube in Balhorn (um 1930) zweiter von links: Konrad Wicke, stehend: Christian Löber
Vater Hildebrand und die zwei älteren Brüder waren im Sommer Zimmerleute und im Winter Drechsler. Willem hatte mit dem Abendessen Feierabend gemacht, während sein Vater noch an einem neuen Spinnrad polierte, das als Zierrat viele fein gedrehte knöcherne Köpfchen trug. Eine reiche Braut im Waldeckschen sollte das Rad als Hochzeitsgabe mitbekommen. Willem erzählte uns von diesem Prachtstück, das acht Taler kosten sollte, eine gewaltige Summe. Willem war aber auch voll von Dorfneuigkeiten und erzählte laut und mit lebhaften Gesten. Kurz vorher war ihm ein angehender Bräutigam begegnet, der es auf Engelhards Katherlis (Katherina Elise) abgesehen hatte. Wenn der Vorspruch heute Abend perfekt würde, dann gäbe es wohl bald ein großes Knallen, denn eine solch wichtige Sache wurde von vier bis sechs Burschen mit lautem Peitschenknall verkündet. Der Bräutigam bedankte sich dann mit einem ansehnlichen Trinkgeld. Engelhards hatten eine lange Reihe von Söhnen und Töchtern und der zweite Sohn David ging ebenfalls auf Freiersfüßen. Nun war ihm wohl seine Erwählte, Gerholds Hermine recht freundlich gesinnt, nicht aber die Mutter, so dass David seine Besuche in den Abendstunden verschwiegen, still und leise ausführen musste. Die zukünftige Schwiegermutter hatte die Besuche rundweg verboten, denn die Engelhards standen nach ihrer Ansicht einen Rang tiefer als die Gerholds. Ein großer Hund namens Max bewachte den Hof. Dieser treue Wächter aber hatte für den Freier große Sympathie, weil dieser immer einige Wurstzipfel mitbrachte und deshalb bellte Max nicht einmal. All dies wusste Willem sehr drollig und anschaulich zu berichten. Alle Männer und Frauen des Dorfes waren für uns Kinder Vettern und Basen. Auch Vetter Theiss saß einen Abend lang in der Nähe des Ofens und erzählte, wie er in jüngeren Jahren Holzhauer gewesen war. Was so ein Kleinbauer an Werkholz brauchte, holte er sich selbst aus dem Walde und das galt seit alten Zeiten als gutes Recht, wenngleich der Förster meist anderer Ansicht war. So hatte Vetter Theiss einst einen mittleren Baumstamm in der Dunkelheit heimgeschafft, als er Wind von einer bevorstehenden Hausuntersuchung bekam. Schnell musste sein Bruder, der so genannte dicke Theis herbei, um in der Nacht den Stamm in handliche Stücke zu zersägen. Dann stellte man das Holz in die Ecke und banste einige Lagen Stroh davor, so dass die Sache recht unschuldig aussah. Man fand natürlich nichts und im allgemeinen hatten diese Haussuchungen auch sehr wenig Erfolg. Vetter Theiss war lang und dünn, seine Frau aber dick und rund, fast so breit wie hoch. Sie war die freundlichste und gütigste Frau unserer Bekanntschaft und schenkte uns oft die schönsten Äpfel und Birnen. Mein Vater erzählte an solchen Abenden oft von den nächtlichen Gängen in den Wald um Streuzeug zu holen. Auch das war von der Forstverwaltung verboten. Vater und Mutter rechten zuerst das Laub zu Haufen, dann ging Mutter allein durch den finsteren Wald nach Hause, während Vater weiter Laub sammelte, spannte die Kühe an und brachte den Wagen mit einem hohen Aufsatz darauf, damit viel Laub geladen werden konnte. In der Morgendämmerung kam man dann glücklich wieder zu Hause an. Niemals sind solche Fuhren von einem Nachbarn verraten worden und die Männer erzählten mit großem Vergnügen, wie sie Förstern und Gendarmen ein Schnippchen schlugen. Das Laubholen fiel vor alle in jene Zeit, als meine Eltern noch wenig Land besaßen, also kaum Stroh ernteten. Später, als mein Vater fast 25 Morgen hinzugekauft hatte, waren die Verhältnisse schon wesentlich günstiger. Einst hatte mein Vater Nachtwache, zu der alle Männer des Dorfes der Reihe nach vom Ortsdiener bestellt wurden. Man hatte dies eingeführt, als das System ständiger Nachtwächter aufgegeben worden war. Vater hatte aber an diesem Tag wieder hart gearbeitet, war hundemüde und zog es vor, ins warme Bett zu kriechen, statt durchs Dorf zu wandern. Da aber - Oh Schrecke! steht um Mitternacht der Gendarm mit dem Bürgermeister vor der Haustür und ruft wütend nach dem Wachmann, den er im ganzen Dorf nicht gefunden hat. Vater springt geistesgegenwärtig in die Hosen und entschlüpft durch die Hintertür ins Freie. Hinter den Gärten eilt er hinab zum Hause Hensels Hansjörge (Hans Georg) und bittet diesen um einen Kittel, denn diesen hatte er im Hause nicht mehr erreichen können. Gemütlich kam er nun die Dorfstraße hinauf. Der Gendarm verabschiedete sich gerade vom Bürgermeister, nachdem er ihm eindringlich ans Herz gelegt hatte, den Übeltäter zur Rechenschaft zu ziehen. “Aber da kommt ja Henkelmanns Reinhard” ruft der Bürgermeister erleichtert aus, “ich wusste doch, dass er irgendwo stecken musste, der Reinhard macht doch immer seinen Dienst!. Der Gendarm brummte noch, er habe doch das ganze Dorf abgesucht, aber mein Vater erwähnte harmlos, er müsse wohl den Hackelberg heraufgegangen sein, während der Gendarm die mittlere Dorfstraße hinaufging und so müssten sie sich verfehlt habe. Die Männer wussten von ihren Kühen recht lustige Geschichten zu erzählen., denn jedes Tier hatte einen anderen Charakter, ganz wie bei den Menschen. Auch die Holzfahrten durch den Naumburger Wald waren interessant, und so verging der Abend wie im Fluge. Eine gar unterhaltsame Frau war Engelhards Base, die Stiefmutter meiner Freunde. Sie stammte aus Sand und hatte lange in Gudensberg gedient. Dort und im benachbarten Fritzlar waren in vergangenen Zeiten einige Moritaten vorgekommen und die Base wusste solch grausige Dinge recht grauslich zu schildern. Wir lauschten mit klopfenden Herzen und der Schlaf war in dieser Nacht weniger friedlich als sonst. Freundlich und lebhaft war Mutters Verkehr mit ihren beiden Schwestern, die oft zur Spinnstube kamen. Mutter hieß ebenso wie ihre jüngste Schwester Katherina, sie aber wurde Trinchen genannt und ihre Schwester Kathrin. Mutter machte dann ihre Gegenbesuche mit dem Spinnrad und nahm mich öfters mit. Dabei passierte mit bei Base Kathrin, meiner Patentante, ein rechter Lapsus. Ich wusste nämlich, dass es gegen zehn Uhr Kaffe mit Kuchen oder schön gestrichene Brote gab und diese lockenden Bilder beschäftigten mich sehr. Schließlich platzte ich heraus: “Mutter, ich habe aber so einen Hunger!” Sicherlich hätte ich zu Hause den Kartoffeln mit Sauermilch nicht die entsprechende Ehre angetan. Mutter war höchstlichst entrüstet über diese Taktlosigkeit und schalt mich auf dem Nachhauseweg kräftig aus. Die Base Kathrin aber lachte nur und beschleunigte die Zubereitung des lukullischen Abendmahls. Ihre Gartenhecke mit den gelben Himbeeren war für mich ebenfalls ein besonderer Anziehungspunkt im Sommer und die Base lud mich oft ein. Auch bei Base Alies war es recht gemütlich. Sie hatte nur ein kleines niedriges Haus, aber einen schönen Obstgarten, dessen Früchte im Winter viel Anziehendes hatten. Die drei Schwestern lebten in steter Einigkeit. Nur im Backhaus wäre es einmal fast zum Streit gekommen, denn Kathrin hatte ein kleines Kuchenblech mit einem besonders kostbaren Teig unter das unterste Brett des Ablagegestells geschoben, weil alle Bretter mit Gebackenem und Ungebackenem besetzt waren. Da trat meine Mutter aus Versehen in den herrlichen Kuchenteig! Der Base kamen die Tränen vor lauter Trauer und Ärger. Fast wäre ein böses Wort über die Lippen gekommen, aber sie beherrschte sich mit Heldenmut und so ging alles glimpflich vorüber. Schön waren die Sonntagabende im Winter, wenn die Verwandten zu uns kamen. Dann wurde die Missionsharfe, eine Sammlung geistlicher Volkslieder aus der Schublade geholt. Vetter Martin und Pate August Haupt mit ihren Frauen hatten gute Stimmen, auch mein Vater und ich und so erklangen die schönen Lieder: “Oh selig Haus, wo man dich aufgenommen”, “Wo findet die Seele”, “Fort fort mein Herz zum Himmel”, “Wie lieblich ist’s hienieden, wenn Brüder treu gesinnt” und noch viele andere. Fast möchte ich sagen, wir waren begeistert, als das Lied erklang “Wer will Streiter Jesu sein und nicht ein Widerchrist?” Das Lied hatte einen Marschrhythmus und Vater holte bei der Stelle “Die Kreuzfahne weht” die Worte “die Fahne weht” hinten aus der Ofenecke mit seiner tiefen Stimme, so dass uns allen dies sehr kunstvoll klang. Vater konnte diese Lieder alle auswendig. Die Eltern und ihre Geschwister hatten in der Schulzeit nur geistliche Lieder gesungen, denn die Volkslieder kamen erst nach 1870, als eine leichtere Lebensauffassung platzgriff, in die Volksschule. Und die Liebes- und Soldatenlieder, die von der Jugend auf der Straße und in den Spinnstuben gesungen wurden, passten für solche Anlässe erst recht nicht. War es für diese Menschen zu verwundern, die nur Mühsal und Kargheit kannten, gerne von den “Goldenen Gassen des Jenseits sangen? Mit dieser Zauberformale hatte ja die Kirche von Anbeginn die armen Menschenmassen für sich gewonnen und hinzu kam noch, dass die Erde ein Jammertal sei, das man am besten möglichst bald wieder verlässt. Leider hat aber die Kirche zur Besserung der irdischen Verhältnisse wenig beigetragen. In Streitfällen stellte sie sich stets auf die Seite der Besitzenden, ja sie selbst wusste Besitz und Reichtum sehr zu schätzen. Die verwandten Familien Menge und Mai aus Naumburg kamen auch zur Spinnstube. Die Frauen machten sich in der frühen Dämmerung auf den Weg und die Männer kamen nach acht Uhr abends. Da gab es dann reichlich Gesprächsstoff aus der Stadt Naumburg. Mutter Mai hatte zwei kleine Zwillingsmädchen und erzählte, dass diese im ersten Jahr für zwei Groschen verzehrt hätten und wunderbarerweise sei dieser Groschen auch immer rechtzeitig eingetroffen, Man wusste damals wahrlich mit geringen Dingen zu leben und über die Runden zu kommen. Als Bruder Reinhard zwanzig Jahre alt geworden war, erlaubten die Eltern, dass er die Spinnstuben der Jugend besuchte. Dieses Zugeständnis an das weltliche Treiben machten die Eltern, damit er den Töchtern des Dorfes nicht gar zu unbekannt blieb. Mutter ließ ihm hierzu eine schöne Strickjacke stricken, welche die Bauernburschen an den Abenden und Sonntagnachmittagen trugen. Reinhard durfte sogar die Kirmes besuchen und erzählte mir stolz von seinen Fortschritten im Tanzen. Er war bald ein guter Tänzer, obwohl er ziemlich unmusikalisch war. Die gesamte Jugend des Dorfes war in Spinnstubenchors eingeteilt und diese Chors hielten das ganze Jahr über streng zusammen. Niemand hatte in einem fremden Chor zu erscheinen, sonst wurde er hinausgewiesen und wenn es sein musste mit Gewalt. Reinhards Spinnstubenchor musste nun auch zu uns kommen. Das war ein großes Ereignis! Die zugehörigen Burschen kamen erst um zehn Uhr in der Nacht. Zwar wurden die üblichen Scherze wie Spinnrockenwegnehmen, Netzwasser ausgießen oder Licht ausblasen bei solch ernsten Leuten wie meinen Eltern nicht getrieben, aber die vielen Spinnstubenlieder haben mir doch große Freude gemacht.
1) Imshausen bei Bebra. Hier war August Henkelmann Lehrer 2) Die Herren Trott zu Stolz
Quelle: Mitteilungen 97 Geschichtsverein Naumburg
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