Als die „Bahne“ noch in Altenstädt hielt...
Bericht über die Geschichte der Kassel-Naumburger Eisenbahn aus dem Jahrbuch des Geschichtsvereins 2001
Um 15.00Uhr im Jahr 1904 war es so weit: Unter Klängen einer Musikkapelle startet der erste Zug auf der soeben fertiggestellten Eisenbahnstrecke Kassel-Naumburg in Wilhelmshöhe. Die 33,4 Kilometer lange Strecke schmiegt sich geschwungen und harmonisch in die nordhessische Berglandschaft. Etwas Probleme scheint die „Bahne“ aber mit dem Dörfchen Altenstädt zu haben, hält respektvoll - oder vielleicht doch eher hochmütig – gebührend Abstand. Man erzählt sich aber, dass eine alternative Trassenführung, die näher an Altenstädt herangereicht hätte, von einigen Bauern abgelehnt wurde. Der Bahnhof wäre hierbei an der „Pforte“ gebaut worden. Jede „Furche“ fruchtbares Land ist aber wertvoll und wird nur ungern abgegeben. Dennoch wollen die Altenstädter wohl nicht ganz abseits stehen, es wird trotz der Entfernung eine Haltestelle errichtet. Selbstbewusst wie man ist, schreibt man auf die Hinweisschilder „Bahnhof Altenstädt“. Immerhin gibt es einen Bahnsteig und sogar eine Unterstellmöglichkeit. In den nächsten 70 Jahren wird sich diese Haltestelle zu einem wichtigen Element im Leben der Altenstädter entwickeln, wird sozusagen zum „Tor zur Welt“. Nunmehr kann man neben den bäuerlichen und handwerklichen Beschäftigungen, wie sie im Dorf nun mal üblich waren, auch an der Industrialisierung teilhaben. Neben Industriearbeitern, die zum Beispiel bei Henschel in Kassel arbeiten, nutzen auch Bauarbeiter den Zug als Verkehrsmittel. Jetzt ist es auch möglich, auf „Shoppingtour“ in Kassel zu gehen. Natürlich ist das in den Jahren der Kleinbahn nicht so ausgeprägt wie in den heutigen Tagen, dennoch wird nunmehr die Eisenbahn auch für die eine oder andere Besorgung genutzt. Wer glaubt, die Kleinbahn wäre für die Altenstädter nur ein Transportmittel, sieht sich getäuscht. Die Funktion wird alsbald ausgeweitet. So fährt die Lok jeden Tag pünktlich um 11.00Uhr und 14.30Uhr an Altenstädt vorbei, und das unüberhörbar. Schnell bestimmt der Fahrplan der Kleinbahn auch das Leben in Altenstädt, denn Armbanduhren kennt man noch nicht. So wird folgerichtig um 11.00Uhr auf den Feldern mit dem Ertönen der Bahn die Frühstückszeit eingeläutet, um 14.30Uhr gibt es Kaffee und Kuchen. Ebenfalls unbekannt sind Wettervorhersagen. Aber wozu auch, man hat ja die Kleinbahn. „Hörte man den Zug deutlich und klar, Regen im Anmarsch war“. So oder ähnlich lauten nunmehr die „Bauernregeln“ in Altenstädt. Auch die Haltestelle erweitert ihre Funktionen. Romantisch und idyllisch gelegen wird sie zum Treffpunkt der Jugend und Heranwachsenden, sozusagen der „Jugendraum“ des 20.Jahrhunderts. Hier wird sich ausgetauscht, vielleicht auch schon mal der erste Kuss entgegengenommen. In den 30er Jahren, so erzählt Maria Kimm, fällt die Haltestelle einem Streich zum Opfer. Junge Männer montieren die „Hütte“ ab und lassen sie auf dem Kopf liegend wo anders zurück. Auch damals ist die Jugend „nicht ohne“! Aber die Jungs werden ertappt und bestraft: 50 Mark sind fällig. Aber das Hauptproblem der Altenstädter ist der weite und beschwerliche Fußweg. Schon bei der Ankunft, so berichtet Erna David, fragt man sich als Neuankömmling: „Wo sind denn die Häuser?“. Der Weg ist gerade bei schlechtem Wetter und insbesondere im Dunkeln keine leichte Sache. So berichtet Hans Siebert von einer stockfinsteren Nacht, in der er über zwei Stunden umherirrt, bis er schließlich vom Schlamm verschmutzt die Altenstädter Siedlung erreicht. Noch mühseliger wird die „Wanderung“ im Winter. Als Pendler der Kleinbahn kommt man aber oft in den Genuss, morgens den Sonnenaufgang miterleben zu dürfen. Der erste Zug fährt schon um 4.20 Uhr. Um rechtzeitig an der Haltestelle anzukommen, muss man schon um 10 vor 3 aus dem Haus! Aber man ist nicht alleine unterwegs. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg finden regelmäßig regelrechte Völkerwanderungen statt. Neben den Arbeitern nutzen auch die vielen Flüchtlinge aus Kassel die Bahn, um in ihre zerbombte Heimat zu gelangen. Ist man selbst an der Haltestelle angekommen, muss der Zug aber erst einmal zum Anhalten gebracht werden. Denn es handelt sich ja nur um eine Bedarfshaltestelle. Dazu muss man im Dunkeln mit einer Lampe ausgerüstet sein, die man zum Winken verwendet. Nur so fühlt sich der Lokführer verpflichtet, in Altenstädt die Bremse zu ziehen. Fahrkarten werden zu Fuß in Naumburg besorgt. Meist Wochenfahrkarten. Das Lösen im Zug ist zu teuer und außerdem gibt es nur Einzelfahrscheine. Ticketautomaten müssen erst noch erfunden werden. Was passiert, wenn man mal kein Geld und keine Fahrkarte hat? Davon berichtet Lisa Siebert, die aus diesem Grunde mit ihren Freundinnen so lange im Sander Wartesaal festgehalten wird, bis jemand das notwendige Geld besorgt. Von wegen „Schwarzfahren“! Übrigens wird der Schienenverkehr auch in den Kriegsjahren fortgesetzt. Nur ist die Reise jetzt nicht mehr so idyllisch. Im Dunkeln müssen die Fenster mit Pappe verklebt werden. Dennoch kommt es auch zu Bombenangriffen. Man erinnert sich, dass man schon mal morgens mit der Kleinbahn nach Kassel gefahren ist, abends aber wegen Alarm der Rückweg nur zu Fuß absolviert werden konnte - immerhin fast 30 Kilometer.
Weniger Erfreuliches weiß Heinrich Hildebrand auch aus den Monaten nach dem Krieg 1945 zu berichten. In dieser Zeit dient die Kleinbahn den hungernden Kasselern, um aufs Land zu kommen. In den Dörfern angekommen, so auch in Altenstädt, gehen die Menschen regelrecht betteln. An den Türen der Bauern fragt man nach Eiern und Speckschwarten. Die Städter werden auch als Hamsterer bezeichnet. Einer von ihnen, so Hildebrand, musste sich wohl vor Erschöpfung am Rande eines Feldes, dass von seiner Familie gerade bearbeitet wurde, niederlassen. Als er plötzlich in sich zusammensinkt, ahnt man nichts gutes. Er sollte Altenstädt nicht mehr lebend verlassen. Auf einen Handwagen wird der Leichnam ins Spritzenhaus gebracht, nachdem Bürgermeister Wilhelm Schreckert informiert wurde. Zurück zur Kleinbahn: der beeindruckendste Streckenabschnitt ist wohl die Steigung von Elgershausen nach Hoof, berichtet Fritz Ritter. Um den Berg zu bewältigen, wird schon mal eine zweite Lok angespannt. „Hans helf mir doch, Hans helf mir doch....“ imitieren die Mitreisenden den mühevollen Kraftakt der Loks. Runter geht es aber besser: „Ich brauch dich nicht, ich brauch dich nicht....“ klingt es im Dampflok-Rhythmus bei der Abfahrt. Einer der Lokführer ist der Vater von Elsbeth Raabe. Er kann sich auf seine Tochter verlassen, die ihm jeden Tag zu Mittag warmes Essen an die Haltestelle bringt. Eines Tages, so berichtet sie, wird ihr aber die falsche Zeit angesagt. Kaum unterwegs hört sie schon das Pfeifen der Lok. Nun aber Beine unter die Arme, keine Zeit zum Verschnaufen. Dummerweise reißt das Gummi des Unterrocks. Der Schlüpfer schleift auf den Schuhen, als sie gerade noch rechtzeitig die Haltestelle erreicht. Um den Tag unvergesslich zu machen, springt der Hund Mobby noch auf den Zug, wird kohlschwarz und hat nichts besseres zu tun, als der Elsbeth in diesem Zustand auf den Arm zu springen.
Von seiner einzigen und somit letzten Fahrt berichtet Tasso Minkner: „Eh‘ Ende der siebziger Jahre (September 1977) der regelmäßige Personenverkehr der Kassel-Naumburger-Eisenbahn eingestellt wurde, fuhr ich – von Marburg anreisend – ab Kassel mit der Bahn nach Altenstädt, obwohl die Fahrt lange dauert und umständlich ist. Ich stieg in Kassel im Hauptbahnhof in den entsprechenden Zug, ich hatte Zeit und –obwohl auf einer Holzbank sitzend – genoss ich das Leben, genoss den Blick in die Weite, hin zu den Hügelketten, an deren Hängen kleine Dörfer sichtbar sind, liebevoll gepflegt, einschließlich der neuen Einfamilienhäuser mit Garten drumherum, hin zu den saftigen Wiesen und Feldern – eine ‚heile Welt‘, von hier aus gesehen. Als nach ein paar Minuten der Schaffner kam, bezahlte ich und teilte ihm mit: ‚ In Altenstädt möchte ich aussteigen‘ – was man bekannt geben musste, weil in Altenstädt nur im Bedarfsfall gehalten wird. Der Bedarf war gegeben – insofern kein Problem, der Schaffner nickte. Nach zehn Minuten kam er auf mich zu und sagte:‘ Wissen Sie: Die Haltestelle liegt ziemlich weit außerhalb von Altenstädt‘. Ich:‘ Das macht nichts‘. Er nickte und ging. Nach zehn Minuten kam er wieder: ‘Wissen Sie, das möchte ich doch noch sagen: Der Weg ist nicht ausgeschildert – und man sieht von Altenstädt nichts – das ist ziemlich weit‘. Ich: ‘Das macht nichts, ich finde es schon.‘ Aber auch das beruhigte den Schaffner offenbar noch immer nicht, er kam ein drittes Mal: ‚Ich muss ihnen noch etwas sagen: Der Weg ist ein Feldweg, nicht gepflastert, und das Gras wächst auf ihm und das ist heute nass, es hat ja geregnet. Und weit ist es auch.‘ Ich spürte: Hier ist einer um dich besorgt. Er versteht dich nicht, wenn du deinen Wunsch, in Altenstädt aussteigen zu wollen, nicht zusätzlich erklärst. ‚Vielen Dank für ihre freundlichen Hinweise: Wissen Sie, ich wohne seit einigen Jahren in Altenstädt, ich kenne den Weg, ich gehe öfter an dieser Stelle spazieren, ich weiß auch: Es ist tatsächlich bis zum Ort ziemlich weit entfernt – aber ich möchte einmal in meinem Leben an dieser Haltestelle aussteigen, einmal in meinem Leben diesen Weg von der Haltestelle nach Hause gehen- so, wie das früher viele Menschen manchmal täglich getan haben – einmal in meinem Leben, eh‘ der Personenverkehr eingestellt wird.‘ Der Schaffner strahlte und lachte, er verabschiedete sich – und ich konnte in Altenstädt aussteigen. Nebenbei gesagt: Ich bin mir durchaus bewusst gewesen, dass ich mit dieser Aktion kaum in der Lage sein werde, das nachzuempfinden, was die Menschen früher fühlten, als sie – nach einem langen Arbeitstag oder beladen mit Einkaufstaschen – hier ausstiegen und den Gang zum Dorf antraten, aber ich habe es wenigstens einmal versucht.“
Trotz aller widrigen Umstände spricht die Altenstädter Kleinbahn-Kundschaft von einer „schönen Zeit“, die man mit der „Bahne“ durchlebt habe. Deshalb freut man sich auch, die alten Hinweisschilder wieder aufgestellt zu haben - wenn auch an anderer Stelle. Und man freut sich, dass der Hessencourrier-Verein die Haltestelle wieder funktionsfähig gemacht hat. All dies ist Grund genug, um im Jahr 2002 am 11. August ein „Bahnsteigfest“ zu feiern!
Bernd Ritter Altenstädt 2002
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