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Mario Arend, Otzberg 1175 Jahre Altenstädt
Sehr geehrter Herr Landrat Dr. Schlitzberger, sehr geehrter Herr Bürgermeister Matzath, lieber Ortsvorsteher Bernd Ritter, liebe Altenstädter und liebe Gäste.
Wir feiern an diesem Wochenende, dass die älteste bekannte Erwähnung Altenstädts 1175 Jahre zurückliegt. In der auf das Jahr 831 bezogenen lateinischen Urkunde heißt es „Alahstat, qui est in pago hassorum“. Das Altenstädt im Hessengau, im alten Hessen zwischen Fritzlar, Kassel und Wolfhagen, kommt im Rahmen eines Gütertauschs – gewissermaßen in einer frühen Form der Flurbereinigung – aus dem Besitz des Klosters Prüm in der Eifel in den Besitz des Klosters Fulda. Zu Altenstädt gehören 45 Familien, Leibeigene mit Angehörigen und weiteren Personen. Jede Familie bewirtschaftet eine Hufe, einen Hof mit etwa 30 Morgen Land. Damit hat das damalige Altenstädt bereits etwa die Hälfte der heutigen Gemarkungsgröße.
Weitaus bedeutsamer ist aber die Schenkung Altenstädts etwa 300 Jahre später – um 1121 - an das Erzbistum Mainz. Die Zugehörigkeit zu Mainz bestand bis 1802, also fast 700 Jahre lang. Das kleine mainzische Amt Naumburg – ein Amt ist eine Verwaltungseinheit, vergleichbar mit einem heutigen Kreis – bestand aus der Stadt Naumburg und den beiden Amtsdörfern Altendorf und Altenstädt. Die Territorien waren früher nicht so in sich geschlossen wie heute, Einschlüsse und Zerstückelungen eines Landes waren häufig. Ein Paradebeispiel ist die Pfalz, die zeitweilig so stark zersplittert war, dass man spottete, sie bestünde nur aus Grenzen.
Und unser Amt Naumburg war so ein Einschluss, eine mainzische Enklave innerhalb der Landgrafschaft Hessen-Kassel. Sie sehen auf der Karte, dass auch das Amt Naumburg nicht zusammenhängt, sondern Naumburg und Altenstädt zusammenhängen, während Altendorf noch mal davon abgetrennt ist. Über Jahrhunderte lag Altenstädt somit an einer Grenze, einer Landesgrenze zwischen Mainz und Hessen. Eine weitere Grenze, die Altenstädt betrifft, ist die konfessionelle Grenze. Naumburg wurde nach einer kurzen ev. Zeit im 30 jährigen Krieg wieder katholisch. Altendorf, Altenstädt und die Orte der umgebenden Landgrafschaft waren hingegen evangelisch-reformiert. Die gleichwohl unsichtbare Grenze, die daraus entstand, verläuft quer durch das kleine Amt Naumburg. Und als wäre das nicht genug, gibt es noch eine dritte gleichfalls unsichtbare, aber hörbare Grenze: Die Sprachgrenze zwischen dem Niederdeutschen und dem Mitteldeutschen, genauer dem Niederhessischen.
Das Amt Naumburg mit Altendorf und Altenstädt – ebenso wie beispielsweise Balhorn, Martinhagen, Breitenbach und Hoof – gehört sprachlich zur hiesigen niederhessischen Seite; Ippinghausen, Wolfhagen, Bründersen, Istha, Wenigenhasungen und Ehlen hingegen zur anderen, der niederdeutschen Seite. Die Fachleute sprechen auch von dieser Grenze als Ick/Ich-Linie, niederhessisch ich ist niederdeutsch ick.
Drei Grenzen, Territorium – Konfession – Sprache. Wie hat sich das ausgewirkt, auf das Altenstädter Leben, auf die Entwicklung des Dorfes? Bestes Zeugnis darüber, ob die Grenzen tatsächlich trennend gewirkt haben oder nicht, bieten die Kirchenbücher, für Altenstädt und Altendorf ab 1650. Die ersten 4 Jahre lang sind die Altenstädter allerdings noch im Altendorfer Kirchenbuch verzeichnet, das „eigene“ Kirchenbuch beginnt dann 1654. Für unsere Fragestellung von Bedeutung sind einerseits die Patenschaften – Patenschaften beruhen auf Beziehungen zwischen Eltern und Paten, oftmals sind das verwandtschaftliche Beziehungen. Und von Bedeutung sind andererseits die Eheschließungen, die die Ehepartner und deren Familien verbinden. Das erstaunliche ist nun, dass über den gesamten Zeitraum, den die Kirchenbücher beschreiben, Beziehungen zu finden sind, die sämtliche Grenzen überwinden. Nur ein paar Beispiele seien genannt: Wir erfahren aus dem Wolfhager Kirchenbuch, das schon 1575 beginnt, dass die Frau von Johann Widdig, des Altenstädter Greben schon 1580 Patin in Ippinghausen war. Im ebenfalls recht frühen Kirchenbuch von Istha heiratet 1629 Giese Clapp die Tochter des Altenstädters Hans Bryland. Das Altenstädter Kirchenbuch berichtet schließlich von den Familien Schlutz aus Naumburg, Gerhold aus Altenhasungen und Istha, und Döring aus Istha, Wolfhagen bzw. Breitenbach. Familien, die bis in die heutige Zeit zahlreich in Altenstädt vertreten sind. Zuzug und Wegzug waren nicht immer leicht, in dem vor 25 Jahren von Herrn Georg Feige verfassten Buch zum 1150 jährigen Jubiläum Altenstädts können sie von den Schwierigkeiten lesen, vom Abzugsgeld bis zu verweigerten Erlaubnissen. Im Ergebnis jedoch – und wie heißt es so treffend: das Ergebnis zählt – kamen die „grenzüberschreitenden“ Verbindungen zahlreich zustande, sie sind über Jahrhunderte dokumentiert.
Lassen sie mich noch etwas zur konfessionellen Situation Altenstädts ausführen. Vielleicht haben sie sich schon mal gefragt, warum Altenstädt evangelisch-reformiert geprägt ist, obwohl es doch so lange zum katholischen Erzbistum Mainz gehört hat. Durch die Grafen von Waldeck, die im 16. Jh. das Amt Naumburg zeitweilig als Pfand besaßen, wurde auch im Amt Naumburg recht früh die Reformation eingeführt. Das kann natürlich auf Dauer in einem Territorium mit quasi „katholischem Eigentümer“ nicht gut gehen, da war Streit vorprogrammiert. Zunächst wurde die Stadt Naumburg katholisiert. In den beiden Amtsdörfern war die Sache jedoch schwieriger, der hessische Landgraf hatte hier nicht aus landesrechtlicher, sondern aus kirchenrechtlicher Sicht mitzureden. Kirchenpatron von Altenstädt war nämlich vor der Reformation das Kloster Merxhausen, und anschließend in Rechtsnachfolge der Obervorsteher des Hohen Hospitals Merxhausen, der direkt der landgräflich hessen-kasselischen Verwaltung unterstand. Ein Kirchenpatron hat Rechte und Pflichten, zu den Rechten zählt die Einsetzung des Pfarrers, zu den Pflichten gehört eine finanzielle, nämlich die Übernahme der Baulast. Hier gilt, wie so oft: Wer zahlt, bestimmt.
Aber nun zum bereits angedeuteten Konflikt zwischen Mainz und Hessen-Kassel. 1624 - inmitten des 30jährigen Krieges – kommt es zu einem vorläufigen Gipfelpunkt der Auseinandersetzung: Der evangelische Pfarrer von Altenstädt und Altendorf Nicolaus Coriarius wird am Sonntag Estomihi 1624 nach dem Gottesdienst in Altendorf von den Mainzer Beamten zunächst gefangen genommen und dann endgültig aus dem Amt Naumburg verjagt, quasi „ausgebürgert“. Wenn sie gerade den Sonntag Estomihi nicht parat haben sollten, auf diesen Tag folgt der Rosenmontag. Der Sonntag Estomihi lag 1624 auf dem 5. Februar, ein wichtiger Tag, wie wir noch sehen werden.
Am Ende des 30jährigen Krieges 1648 wurde nun in den Bestimmungen des Westfälischen Friedens festgelegt, dass im Streit- oder Zweifelsfalle der 1. Januar 1624 der Stichtag für die Wiederherstellung der geistlichen, also der kirchlichen Verhältnisse sein solle, ein Datum, das uns willkürlich erscheinen mag. Sie kennen solche Stichtagsregelungen auch im heutigen Recht z.B. im Steuerrecht. Stichtagsregelungen haben meist etwas willkürliches, sind nicht immer gerecht, aber sie stellen einen definierten Zustand her, wenn die Situation zum Stichtag klar belegt werden kann. Und das war nun 30 Jahre nach besagtem Stichtag, nämlich im Jahr 1654, erforderlich. Da kommt es wieder zum Streit um die Altenstädter Kirchenverhältnisse zwischen Hessen-Kassel und Mainz: Sie sehen auf dem Bild die Repräsentanten der beiden Länder aus dieser Zeit: Links den Erzbischof von Mainz, Johann Philipp von Schönborn. Er gehört zu den bedeutendsten Mainzer Erzbischöfen überhaupt. Obwohl er als protestantenfreundlich bekannt ist, fällt ausgerechnet in seine Regierungszeit der erneute Versuch der Katholisierung von Altenstädt und Altendorf. Sein Gegenpart - im Bild rechts – ist Landgraf Wilhelm VI. von Hessen-Kassel, genannt Wilhelm der Gerechte. Er ist ein gebildeter Mann, der das beste für die Bevölkerung will, dazu gehört für ihn die Bildung und - natürlich - der evangelisch-reformierte Glaube. Die Beiden fechten die Sache natürlich nicht unter sich aus.
Von hessen-kasselischer Seite wird der damalige Balhorner Pfarrer Bartholomäus Thomas vorgeschickt. Auch er ist ein gebildeter Mann, der lateinische Verse geschrieben hat, ein weit gereister Mann, der Danzig und Holland bereist hat, der eigentlich eine bessere Pfarrstelle als Balhorn erhofft hatte. Nun aber hat einen dicken Fisch an der Angel, er hat Altenstädt gewissermaßen „dazubekommen“, denn dem vorher zuständigen Altendorfer Pfarrer war der Weg nach Altenstädt zu beschwerlich geworden, er hat die Betreuung Altenstädts einfach an den Balhorner Pfarrer abgegeben. Bartholomäus Thomas, der also nun für Balhorn und Altenstädt zuständig ist, ist freilich nicht unbefangen. Er will das ev. Altenstädt behalten, bei einem Verlust der gerade erhaltenen Zuständigkeit für Altenstädt drohen ihm Einbußen an Reputation und - noch wichtiger - an Geld. Denn schließlich studieren zu dieser Zeit zwei seiner Söhne, das kostete auch damals Geld. In der Abbildung sehen sie unten - mit Punkten umrandet - einen Teil eines Taufeintrags im Balhorner Kirchenbuch, bei dem sein Sohn Oswald, hier bezeichnet als Student der Theologie, als Pate eingetragen ist. Der Pfarrer Bartholomäus Thomas hat also nun 1654 den Auftrag von der Kasseler Regierung bekommen, geheime Nachforschungen zur Situation von 1624, also zum besagten Stichtag der Bestimmung des Westfälischen Friedens, anzustellen. So recht kommt er wohl mit seinem Geheimauftrag nicht voran, letztlich befragt er die älteren Altenstädter Einwohner nach den vergangenen kirchlichen Verhältnissen. Die Altenstädter Männer antworten ihm zunächst genau das, was er erhofft hat, nämlich, dass der damalige Pfarrer Nicolaus Coriarius bis zu seiner Vertreibung am Sonntag Estomihi 1624, also dem 5. Februar, sein Amt als Pfarrer mit allen Amtspflichten versehen hat. Dann aber kommt die Wende: Pfarrer Thomas will jede Aussage schriftlich protokollieren, mit dem Namen jedes Einzelnen versehen. Was nun kommt, ist uns noch heute gelegentlich aus der Politik bekannt, vor allem, wenn’s mal hart auf hart kommt: Das Phänomen heißt: Plötzlicher Gedächtnisschwund. Ja warum auch sollten sich die Altenstädter ohne Not in die Nesseln setzen, Streit mit ihrem Mainzer Landesherrn riskieren? Und so „wissen sie sich nicht recht zu erinnern“. Darauf antwortet nun eine Frau namens Elisabeth, die Witwe des Theiß Ritter. Pfr. Thomas bezeichnet sie als eine „feine bescheidene Undt der Reformirten Religion Zugethane fraw“ Die wörtliche Aussage erschließt sich aus der Transkription des Briefes von Pfarrer Thomas an die hessische Regierung. Sie können diese Übertragung in die moderne Schrift in einer kleinen Ausstellung im Heinrich-Schröder-Haus nachlesen und mit der bildlichen Wiedergabe des Briefes Satz für Satz vergleichen, wenn Sie mögen. Erlauben Sie mir ein kurzes Zitat, die Sprache ist einfach wunderbar. Elisabeth, die Witwe Theiß Ritters sagt: "es wehre wunder das sie [die Männer] alles so gar vergessen haben solten, es seye ihr der Verlauff selbiger Zeit noch so in frischem gedächtnis, als wens erst gestern geschehen, sie seye das Jahr Zuvor ehe Her Nicolaus gefangen worden im herbst Von Kirchberg aus an diesen ortt braut gefahren Undt von gemeltem Prediger copuliret“ Wir erfahren, dass Elisabeth aus Kirchberg – also aus dem hessischen Ausland - 1623 ins mainzische Altenstädt gekommen ist. Sie ist im Herbst von Kirchberg nach Altenstädt „Braut gefahren“– natürlich im Herbst, da hatte man die Zeit, Hochzeit zu feiern, außerdem war der Erntewagen frei, der konnte mit der Aussteuer beladen werden, geschmückt werden und als Brautwagen für die feierliche Fahrt von Kirchberg nach Altenstädt dienen. Elisabeth Ritter berichtet weiter: „Undt habe sie Zum Wahrzeichen ihr Man seel. so lutherisch uffs Christfest Zur Communion bereden wollen, demnach sie aber reformirt erzogen, habe sie sich nicht dazu verstehen können, sondern gebetten, ihr noch eine Zeit lang zu verschonen, ja es habe der Predigten Herrn Nicolai ihr so wohl gefallen, das, wen er da pleiben, sich Zu bequemen sie nicht Ungeneiget gewesen wehre“ Ihr verstorbener Mann war also lutherisch, jedenfalls noch 1623. Erinnern sie sich daran, dass die Reformation im Amt Naumburg durch die luth. geprägten Grafen von Waldeck eingeführt worden war. 1654 zum Zeitpunkt der Aussage war dann aber die reformierte Religion - wie in Hessen-Kassel, so nun auch in Altenstädt und Altendorf - an der Tagesordnung. Jedenfalls haben die beiden - Theis Ritter aus Altenstädt und Elisabeth aus Kirchberg - im Jahr ihrer Heirat auch noch einen konfessionellen Unterschied, der aber offenbar nicht zum Streitpunkt wurde. Das ist nicht ganz selbstverständlich, denn Lutheraner und Reformierte mochten sich keinesweg, in Marburg schlugen sie sich 1605 im sog. Marburger Kirchentumult gegenseitig die Köpfe ein. Und noch ein dritter Satz der Elisabeth Ritter aus dem Brief des Bartholomäus Thomas an die hessische Regierung: „Erinnerte auch darbey das ein Castenmeister nahmens Jost Löbern, wie in gedachten 1623. Jahre in der heuerndte er nicht weniger als sie von Hern Nicolao copuliret seye"
Also eine weitere Heirat 1623, jetzt heißt es „in der Heuerndte“, vermutlich ist eher nach der Heuernte gemeint. Nach so viel „Erinnerungshilfe“ schildert dann ein anderer eine Taufe „uff Heilige Drei Könige 1624“. Und damit ist der Fall klar, die Stichtagsregelung greift zugunsten des Landgrafen. Mit ihren Schilderungen ist Elisabeth Ritter die einzige, die hier ganz ohne eigene Interessen, nur der Wahrheit verpflichtet, agiert. Meine Damen und Herren, ich denke, das ist eine Sternstunde der Ortsgeschichte. Wir können froh sein, wenn solche Sternstunden überliefert sind. Und natürlich auch stolz sein, wenn wir diese Frau zu unseren Vorfahren zählen dürfen. Sie ist eine Vorfahrin des Ortsvorstehers, und sicherlich auch von vielen hier im Raum. Der Brief von Pfarrer Bartholomäus Thomas war für den hessischen Landgrafen ein Baustein in seiner Abwehr der Ansprüche des Mainzer Erzbischofs.
Die beiden mainzischen Dörfer Altenstädt und Altendorf blieben in der Folge evangelisch-reformiert, über 70 Jahre später - 1726 - wurde die neue Kirche Altenstädts erbaut. Der Landgraf von Hessen-Kassel bewilligte gnädiglich zur Unterstützung des Neubaus eine Kollekte in „den gesamten Hessischen Landen“. Wenn Sie in den nächsten Tagen Gelegenheit haben, den Kirchturm zu besteigen, denken Sie vielleicht an die bewegte Vergangenheit. Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen dargestellt, dass die Altenstädter Grenzen und Unterschiede häufig überwinden konnten. Die Grenzen haben im Lauf der Geschichte ihre Bedeutung verloren oder sind ganz verschwunden. Altenstädt liegt heute in Europa, dessen innere Grenzen kaum mehr wahrnehmbar sind. Die Menschen Europas leben seit 1945 in Frieden und Freiheit. In diesem Europa feiert Altenstädt nun sein 1175 jähriges Jubiläum. Es möge gelingen. Danke sehr.
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