Die Zeit nach dem II. Weltkrieg
IV. Familien Wiltschko, Schneider und Wiegers - neue Heimat in Altenstädt (Brigitte Reinold, lebt heute in Augsburg, Dezember 2007)
Siehe auch unten, E-Mail von Heide Hundertmark (geb. Wiltschko) Weitere Fotos von Brigitte Reinhold unter “Schule früher” und “Geschichte FC-Altenstädt”
Die Nachkriegszeit aus meiner Sicht……
Mein Name ist Brigitte Reinhold, die ältere Generation kennt mich sicher noch mit dem Namen Gitta Wiegers, Jahrgang 1941.
Ich bin mit meiner Mutter, Rosa Wiegers, geborene Wiltschko, im Jahre 1946/47 aus Passau gekommen. Dies war unsere erste Anlaufstelle nach der Vertreibung aus dem Sudetenland. Großmutter Wiltschko mit dem jüngsten Sohn Herbert (2 Jahre älter als ich) kamen mit ihren Eltern Rudolf Schneider, Schwägerin Berta Schneider mit 3 Kindern, Schwester Herma Paulik sowie Schwägerin Olga Wiltschko mit 2 Kindern mit dem Viehwaggon nach Wolfhagen . Hier kamen sie in ein Lager, von wo sie dann verteilt wurden. In Altenstädt bekam jede Familie vorerst ein Zimmer zugewiesen, mit dem Nötigsten ausgestattet. Die Urgroßeltern Rudolf Schneider hatten beim 1. Anlauf kein großes Glück, der Bauer, welcher sie aufnehmen sollte, wollte Arbeitskräfte, welches sie aber nicht mehr waren. Obwohl sie zu Hause auch einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb nebenbei hatten. Ich kenne dies aus dem Erzählen her. Doch ein guter Mensch, Herr Hillberger “Auf der Höhe” hatte ein Einsehen und vor allem viel Herz. Er nahm die beiden zu sich und gab ihnen ein Zimmer unterm Dach. Auch wenn Herr Hillberger immer durch dieses Zimmer gehen musste, denn nebenan war die Vorratskammer, so fiel oft etwas ab für die beiden alten Menschen. Sie konnten es nie verwinden, von Haus, Hof mit Tieren und der Heimat verjagt geworden zu sein. Ebenso bekam meine Oma mit Herbert das Häuschen von Herrn Hillberger neben Frau Volkmann. Nachdem so nach und nach die Familie wieder zusammen kam, wurde dieses Häuschen der Mittelpunkt für eine große Familie.
Meine Mutter wurde mit mir als erste vertrieben, da mein Vater aus dem sogenannten Deutschen Reich und außerdem Berufssoldat war. So kamen wir nach Altenstädt, wo ich im September 1947 eingeschult wurde. Überraschenderweise waren wir von unserem Jahrgang nicht allzu viele Schüler. Da es aber nicht viele Klassenzimmer gab, kamen immer 2 Schuljahre zusammen und die Lehrer mussten Schichtdienst leisten. Frau Enge war eine sehr nette Lehrerin, welche auch aus dem Sudetenland kam, so wie Herr Lackinger. Dieser machte Naturkunde-Unterricht, wenn das Wetter es zuließ, im Freien, gleich unter dem Sportplatz im Grünen. Er erklärte uns die verschiedenen Blätter und was sonst noch alles in der Natur dazu gehört. Auch seine Musikstunden sind sicher noch vielen in Erinnerung, wenn er seine Geige aus dem Kasten holte. Er fuhr mit uns Schlitten. Die Fahrt, unmittelbar neben dem Friedhof und einer Weide, wurde zu einer rasanten Fahrt. Denn mehrere Schlitten wurden aneinander gebunden - und los ging es den Berg hinunter. Ebenso vom Sportplatz runter bis in die Kurve von Bauer Theis, später Römer, war schon sehr gefährlich, man musste zwischen den Bäumen lenken, dann in die Kurve und auf die Straße in Richtung Naumburg. Nur gut, dass es zu dieser Zeit kaum Autos gab, denn die Straße wurde zur spiegelglatten Fläche.
Ausflüge mit dem Bus, dieses war natürlich auch immer ein großes Ereignis. Auf die Schulspeisung hatte man sich auch immer wieder gefreut. Es gab so manches, was auf dem heimischen Tisch nicht kam, wir Orangen, eben Südfrüchte. Ich freute mich immer auf das Studentenfutter. Da ich gerne teile brachte ich meiner Mutter immer etwas mit nach Hause zum probieren.
Zu Weihnachten wurde etwas von den Lehrern einstudiert, ob Reigen tanzen oder einmal durfte ich das Schneewittchen sein, ich hatte ja lange, dunkle Haare
(siehe Foto rechts: Gitta Wiegers, 1953).
Die Rolle vom Königssohn übernahm Herbert, so bestimmte es Herr Lackinger, denn nur er durfte mich wach küssen. Dies wurde im Saal von Gasthaus Ritter aufgeführt, im nächsten Jahr kam das Gasthaus Schlutz dran, damit jeder wohl etwas bei solchen Veranstaltungen verdiente.
Mit Inge Kockegai hatte ich eine kleine Freundschaft, war oft bei ihr, sie lebte mit ihrer Mutti und Omi im Schulhaus, neben einem Klassenzimmer. Nachdem ihr Vater aus der Kriegsgefangenschaft kam, war natürlich die neue Familie wichtiger als ich. Ich hatte aber danach eine besonders nette Freundschaft mit Liesel Meile, welche dann später unterbrochen wurde, durch ihren und meinen Wegzug aus Altenstädt Wir hatten ein Zimmer bei Marie Becker, ihrem Vater und Sohn Heinz-Willi in der Wolfhager Straße. Die beiden Familien verstanden sich gut, da sie gleichaltrig waren und man half sich gegenseitig. Opa Becker brachte mir das Lesen bei, er hatte viel Zeit, da er durch seine Beinbehinderung nicht mehr arbeiten konnte. Heinz-Willi und ich bekamen nach dem Melken unseren Becher Milch. Aber „Becker-Tante“, wie ich sie nannte, konnte auch mit uns schimpfen, weil wir immer die grünen Krutzen aßen, der gute Apfelbaum in Rißelers Garten, hinter Beckers Feld, reizte uns immer sehr. Doch eines Tages hatte sie genug von der Schimpferei, die nichts nutzte, sie erzählte uns, man wolle uns den A….. versohlen. Von da an machten wir einen Bogen um Rißelers Haus und natürlich hatte der Apfelbaum von nun an seine Ruhe vor uns.
Uns gegenüber wohnte Familie Ritter, der Sohn Fritz und die Tochter Erna, sie war älter als ich, doch ich wollte immer gerne so eine große Schwester. So band sie mich in viele kleine Arbeiten mit ein, was ich gerne tat. Tante Lene mochte ich besonders gerne, sie hatte so eine sanfte Art. Ich bin oft rüber gesprungen, durfte von ihren Beeren im Garten naschen. Da Arbeitskräfte gebraucht wurden, gingen die Frauen zu den verschiedenen Bauern, es gab immer etwas zu tun: Rüben hacken, Heu-Grummet bis hin zur Ernte. Ich wusste bald schon, auf welchen Feld meine Mutter war, zumal Bauern ja unterschiedlich geortet waren.
Da ich mich gerne nützlich machte und Freude an kleinen Kindern hatte, war ich oft bei Frieda Schlutz und passte auf den kleinen Heinz auf, der freute sich immer, wenn ich kam. Auch auf den kleinen Ralf passte ich auf, wenn Gerda Schlutz auf das Feld ging, so nahmen wir den Kinderwagen und ich schob ihn auf dem Feldweg hin und her, bis wir wieder zusammen nach Hause gingen. Ebenso auf Heribert Franke durfte ich hin und wieder aufpassen. Natürlich bekam ich immer etwas dafür.
In dem Haus von Helga Franke wohnten dann die Urgroßeltern Schneider, der Sohn Josef kam aus der Kriegsgefangenschaft, sowie seine Frau Berta mit den Kindern Josie, Norbert und Christel. Auch meine Großtante Herma Paulik wohnte in dem Haus mit ihrem Mann Adolf, davor hatten sie ein Zimmer bei dem Ehepaar Schaumlöffel.
Von der Gemeinde gab es für jeden ein Ländchen unten am Teich, ich glaube, es heißt Semmet. Hier hatte man alles Mögliche gesät und hatte sich somit Vorräte für den Winter geschaffen. Der Teich ist mir auch in guter Erinnerung, nach der Schule traf man sich mit den Gänsen dort. Oma packte uns ein paar Brote ein und für jeden eine Flasche verdünntes Himbeerwasser, oder auch verdünntes Essigwasser mit Zucker, was gegen den Durst. Herbert, eben der jüngste Bruder meiner Mutter, zog mit mir und den Gänsen los, diese freuten sich in ihrem Element zu sein und schnatterten drauf los als sie mit den anderen im Teich waren. Doch wenn unsere Zeit war aufzubrechen, rief man und sie kamen angewatschelt. Für mich immer ein kleines Wunder: „dumme Gans“ zu sagen entspricht nicht der Wahrheit!
Foto rechts: Marie Witlschko, Enkelin Heide, Ingrid Simshäuser und Marie Gertenbach
Der kleine Wald hinten “Auf der Höhe” wurde von Schülern angepflanzt, wir waren sehr stolz, dies machen zu dürfen. Meine Mutter und ich zogen zu Heinrich Klapp (Bürgermeister) in 2 Zimmer. Hier war auch die kleine Brigitte, welche nach ihrem Schlaf immer gerne bei uns klopfte und mit uns frühstücken wollte. Auch der Schäferhund Rolf war ein ganz lieber, er wartete bis er mich von der Schule kommen sah und rannte mir entgegen, freute sich, wenn ich ihm die Hand auf den Kopf legte. Die Liebe zu Tieren war sehr stark, vor allem Hunde hatten es mir sehr angetan. Habe selbst in 35 Jahren 3 Cocker Spaniel gehabt, war für mich eine schöne Erfahrung. Da der Wald so nah war, ging man in der Zeit gerne Heidelbeeren pflücken. Meine Urgroßmutter war eine dankbare Abnehmerin, denn sie machte dann gerne eine Mehlspeise und Früchte dazu. Ich war eine eifrige Sammlerin, da ich als Kind die Not um mich sah und spürte. Auch Bucheckern sammelte ich, es war mühsam, aber die kleinen Hände doch sehr flink. Diese brachte meine Mutter in die Mühle, dort wurden sie gepresst und man hatte dann wieder eine Flasche Öl: dies war mein Zutun. Die Zeit der Pilze: da gingen die Familienmitglieder gemeinsam los in den Wald. Die Einheimischen kannten dies nicht, die sogenannten Schwammerln kannten nur die „Flüchtlinge“ - den Unterschied zu „Vertriebenen“ nahm man nicht so genau. Die Schwammerln wurden geputzt, geschnitten, aufgehängt und getrocknet, danach kamen sie in Leimensäckchen. Somit waren viele Mahlzeiten gerettet. Da ich seit 1965 in Bayern lebe, ist es normal, Schwammerl-Soße mit Semmelknödel zu essen, nur in der heutigen Zeit ein teures Essen. Das Hillberger-Häuschen “Auf der Höhe” wurde wirklich Mittelpunkt einer großen Familie. Nachdem bis auf Walter alle da waren und meine Mutter, als älteste immer für ihre Geschwister da war, ging sie eines Tages los, um ihren Bruder Walter zu suchen. Man hörte sich um und erfuhr, man habe ihn in der nördlichen Region gesehen. Er konnte nicht mehr heim ins Sudentenland. So stieg meine Mutter in den Zug und fuhr in Richtung Norden. Irgendwo stieg sie aus und ging von einem Dorf zum anderen, immer mit der Frage, ob man einen Walter Wiltschko kennen würde. In der Nähe von Uelzen stand sie vor einem Bauernhof und sah wirklich ihren Bruder Walter, der gerade am Holz hacken war. Er konnte nicht glauben, dass man ihn gesucht und gefunden hatte. Sie konnte nur sagen: „Komm Walter, lass uns heim gehen“. Dies bedeutete nach Altenstädt! So kam die Familie wieder zusammen, denn auch Berta, die in Passau verheiratet war, kam wieder zur Familie zurück und brachte ihre Tochter Inge mit. Familie Wiltschko war wieder vereint, mit ihren 6 Kindern und 2 Enkelkindern (Inge und ich). So wurde Altenstädt ein neues Zuhause.
Das Zusammenleben im Dorf mit den Einheimischen wurde zusehends besser, da die ansässigen Bauern doch mit der Zeit erfuhren, auf welche Menschen Verlass war: die arbeiteten und nicht durchgefüttert werden wollten.
Irgendwann sind meine Großeltern aus dem Häuschen von Herrn Hillberger ausgezogen. Sie zogen unten am Hackelberg neben Bäcker Knippschild. Es war nun nicht so groß, doch sie waren ja jetzt nur noch zu dritt, denn mit der Zeit sind die anderen ausgezogen und haben geheiratet. Rupert war in der Zwischenzeit mit Rosa Panek verheiratet, sie kam mit ihrer Familie auch aus Krummau/ Sudetenland. Sie wohnten in der Balhorner Straße, bei Familie Schnellenpfeil, wo auch 1953 ihre Tochter Heide zur Welt kam. Berta heiratete Horst Schilling, der auch in Altenstädt wohnte, aber aus Kassel stammte, wo sie dann auch hinzogen. Walter heiratete Anneliese Meissner aus Naumburg, wo er dann auch lebte. Sepp heiratete Inge Müller aus Naumburg und zog nach Neurath/Rheinland.
In der Zwischenzeit sind meine Urgroßeltern verstorben, der Sohn Josef Schneider zog aus beruflichen Gründen mit der Familie fort. Tante und Onkel Paulik nahmen uns mit nach Lübeck, wo ich die restliche Schulzeit verbrachte. Doch meine Mutter und ich zogen dann nach Kassel, wo ich meine Lehrzeit verbrachte.
Da in der Zwischenzeit auch mein Opa Wiltschko mit 58 Jahren verstarb, lebte Oma mit Herbert allein noch in Altenstädt. Herbert ging zur Bundeswehr und kam somit nur immer kurz nach Hause. Dann kam der schreckliche Moment in unser aller Leben, Herbert hatte im Mai 1959 in Breitenbach einen tödlichen Motorradunfall. Seine Bundeswehr-Kameraden aus Koblenz begleiteten ihn zu seinem Grab auf dem Friedhof in Altenstädt (siehe Foto rechts, Heinrich-Schröder-Straße). Viele Dorfbewohner konnten diesen Anblick der marschierenden Soldaten kaum ertragen. Diesen traurigen Weg sind so manche vor ihm und auch noch nach ihm gegangen. So manche Namen sind mir bekannt aus meiner Kind- und Schulzeit.
Meine Oma konnte diesen Verlust ihres geliebten Sohnes kaum ertragen. Sie erlebte noch die Geburt meiner Tochter Petra, meine Heirat. Im selben Jahre 1960 starb sie mit 58 Jahren. Nun hatten wir 5 Gräber in Altenstädt. Ein paar Jahre später verunglückte ihr Sohn Walter tödlich bei Naumburg. Dieser hinterließ seine Frau Anneliese und 2 Kinder, die noch klein waren: Brigitte und Hans-Peter. Die Gräber wurden oft besucht und gepflegt, bis zu dem Zeitpunkt, als Onkel Rupert gesundheitlich schwächer wurde und der Weg von Kassel nach Altenstädt immer beschwerlicher wurde. So entschlossen sich die restlichen Geschwister, Rosa, Berta, Sepp und Rupert die Gräber aufzulösen, zumal das Gespräch war, es komme ein Weg darüber.
Da ich schon seit 1965 in Augsburg lebe, holten wir meine Mutter, nachdem sie in Rente ging, zu uns. Sie bezog eine schöne Wohnung, wo sie zufrieden lebte. Sie sah ihre 2 Enkel heiraten und 6 Urenkel kommen. Durch Krebserkrankung und schwerer Operation war sie nicht mehr in der Lage, ihren Haushalt zu führen. Wir besorgten ihr ein schönes Appartement in einem Stift, wo sie noch fast 10 Jahre lebte. Im Sommer 2005 schloss sie für immer die Augen, ihr Herz hörte plötzlich auf zu schlagen. Sie war die älteste von ihren Geschwistern und ging als letzte mit 85 ½ Jahren.
Der Familien-Clan – Schneider – Wiltschko – Wiegers – den gibt es nicht mehr.
Ich, Brigitte Reinold, geborene Wiegers, bin nun die einzige, von 9 Cousinen, die als vertrieben gilt. Die anderen sind alle über der Grenze geboren, in Deutschland.
Ich, mit meinen 66 Jahren denke gerne an Altenstädt, es war meine Kindheit!
Foto rechts: Gang über den Friedhof: Gitta mit ihrer Mutter
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